Fragen über Fragen

Seit knapp einem halben Jahrhundert wird das Übersetzen aus einem neuen Blickwinkel kritisch hinterfragt und zur Erkenntnisgewinnung eingesetzt. Die Diskussion mit angestoßen hat Edward Said, sein 1978 erstveröffentlichtes Buch Orientalismus ist inzwischen zum Klassiker avanciert.
Ich zitiere nur eine von vielen, die sich in dieser Diskussion sehen, zitiere aus einem Artikel, den Doris Bachmann-Medick 2004 für die Frankfurter Rundschau mit dem bezeichnenden Titel Einsturzgefahr beim völkerverbindenden Brückenbau verfasste: „An die Stelle vertrauter Kriterien der literarischen Übersetzung wie Original, Treue, Äquivalenz, Repräsentation treten jetzt neue Leitvorstellungen wie kultureller Transfer, Aushandlung, Fremdheit, Alterität, kulturelle Differenzen und Macht.“
Wie, frage ich mich und würde es gern diskutieren, wie müsste eine Übersetzung aussehen, die nach den Leitvorstellungen kultureller Transfer, Aushandlung, Fremdheit, Alterität, kulturelle Differenzen und Macht angefertigt wurde?
Ein Begriff in der Aufzählung überrascht besonders: Macht. Angesichts der Vorstellung eines scheinbar unaufhebbaren Vorrangs des Originals, das der Übersetzer nur verraten kann oder bestenfalls in einer kongenialen Nachgestaltung vorlegt, liegt die Idee, dass eine Übersetzung mehr Macht haben soll, nicht eben nahe. Doch die Kulturwissenschaften kommen von der anderen Seite auf die Übersetzung, sie wollen den interkulturellen Dialog, und in dem spielt die Übersetzung eine unübersehbar dominante Rolle.
Im kulturwissenschaftlichen Kontext, Stichwort Postkolonialismus, Stichwort cultural turns, wird die Hegemonie europäischer Sichtweisen kritisiert. Grob vereinfacht sagt Edward Said in dem bereits erwähnten Orientalismus-Buch, der Orient sei nichts als Projektion okzidentaler Sehnsüchte; die Europäer scheuten die Mühe, die Länder Nordafrikas, des nahen und fernen Ostens ernstzunehmen und kennenzulernen, sie haben sie lieber in einen Topf geworfen und sich ein Bild ihrer Kultur geschaffen, das auf der Umkehr des eigenen Selbstverständnisses beruht – was im Westen hell und weiß ist, ist im Osten dunkel und schwarz. Sie haben diese Länder mit ihrer technischen und militärischen Maschinerie unterworfen und nehmen bis heute nicht zur Kenntnis, wie die Orientalen sich selbst sehen – als Orientalen jedenfalls nicht.
Kulturwissenschaftlern wie Bachmann-Medick oder Boris Buden geht es nur bedingt um Übersetzungen, sie nutzen diese Kulturtätigkeit vielmehr als Kategorie bzw. Erkenntnisinstrument, als Mittel, gesellschaftliche, politische und kulturelle Vorgänge zu begreifen. Lassen sich ihre damit gewonnenen Einsichten für Übersetzerinnen fruchtbar machen? Haben ihre Forschungen Rückwirkungen auf unsere Zunft?
Sind sie womöglich für Übersetzende aus den und in die Nachfolgesprachen des Serbokroatischen besonders relevant? Schließlich reicht der Orient bis Sarajevo, und die gesamte Region wurde lange von anderssprachigen Herren regiert, sie gehörte zur Donaumonarchie bzw. zum Osmanischen Reich, und in ihren Sprachen hat die Fremdherrschaft – ist dieser Ausdruck nicht ebenfalls eine retrospektive Interpretation? – tiefe Spuren hinterlassen. Das Türkische wie auch das Deutsche und in geringerem Maße das Ungarische haben aus Serbisch und Kroatisch fast schon Hybride gemacht, Mischsprachen, in deren Wortschatz die türkischen und deutschen Lehnwörter großen Anteil haben, und deren Satzbildungsvorlieben ebenfalls von dem jahrhundertelang als Zweit- oder Erstsprache gebräuchlichen Idiom geprägt sind.
Boris Buden thematisiert noch eine andere Form der Hybridisierung: den Einfluss des Deutschen über die jugoslawischen Gastarbeiter. Es ist eine einseitige Angelegenheit, auf das Deutsche hatten Jugoslawen wenig Einfluss. Mit den Türkischen lief das etwas anders, die Kanak-Sprach ist in der BRD ein Begriff und das Phänomen selbst wird gern zitiert. Alles eine Frage der Kopfzahl? Oder der Präsenz des Heimatlandes? Also des Selbstbewusstseins?
Durch die Größe der Sprechergemeinschaften, wirtschaftliche Faktoren und historische Entwicklung gibt es eine Diskrepanz zwischen Deutsch und BKMS. Wirkt sich das auf Übersetzungen aus? Wenn ja wie? Gibt es Möglichkeiten, dem entgegenzuarbeiten? Etwa Germanismen in der kroatischen Form beizubehalten? Die Markierung der direkten Rede übernehmen? Wörter schmuggeln, wie es mein geschätzter Kollege Klaus-Detlef Olov betreibt? Oder, subtiler, darauf achten, Herrschaftsvokabeln (welche wären das?) zu meiden?
Das Schlagwort Hybridisierung markiert u.a. den Abschied von dem Dualismus zwischen Ausgangs- und Zielsprache. Was ändert sich, wenn wir von dem binären Paar Deutsch/Kroatisch etc. weg vor dem Hintergrund der Einsicht übersetzen, dass der türkische, ungarische, italienische Einfluss auf das Kroatische etc. erheblich war? Wie kann man Hybridbildungen der einen in die andere Sprache retten?
Was passiert, wenn wir Differenzen zwischen Kulturen und Sprachen ernst nehmen, statt sie geschwind zu überbrücken? Können wir kulturelle Verwerfungen übersetzend in eine Art disruptive Diktion überführen, ohne dass Lesbarkeit und Bereitschaft der Leserschaft, sich auf das Abenteuer einzulassen, darunter leiden? Die vielleicht gar einen Mehrwert für die Rezeption schafft?
Vielleicht gar das Ansehen unserer Zunft aufwertet?

Die Gedanken hier entstanden anlässlich der Vice-versa-Werkstatt Deutsch-BKMS am EÜK in Straelen.

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