Die Eule der Minerva

Mit diesem Gebäude verbindet mich eine intensive Erinnerung. 1988 betrachtete ich, eingemummt in meinen dicken Winterpelz, im Lesesaal die Erstausgabe von Fichtes Wissenschaftslehre 1794. Die gewaltigen, originalen und daher altersschwachen Radiatoren bollerten vor sich hin, konnten aber gegen die sibirische Kälte draußen, die riesigen Fenster und die Höhe des Raums – er reicht bis unter die viereckige, sanft geschwungene Glaskuppel hinter den Eulen – wenig ausrichten. Allein der Lesesaal war ein Erlebnis, die angesichts der Höhe zwergenhaften Tischreihen mit grün beschirmten Messinglampen, erlesene Holzvertäfelung, dezente Vergoldungen, bunte Glasflächen, durch die die bleiche Januarsonne warm gebrochen hereinfiel, und alles in einem extrem romantischen Zustand des Verfalls, angeschrammelt, abgewetzt, abgeplatzt, kaputt, verstoßen, zerbrochen. Obsolete Grandezza wirkt doppelt grandios. Der Charme einer untergegangenen Epoche entfaltet sich erst im Verwelken ganz, zumal wir ihre Schattenseiten nicht mehr oder wenn, dann historisch vermittelt zu spüren bekommen.

Ex-Nationalbibliothek, heute Staatsarchiv
Das Staatsarchiv, erbaut als Königliche Universitätsbibliothek 1913

Und in diesem Ambiente dann auch noch eine Ausgabe der Wissenschaftslehre (mein Dissertationsthema) vor mir, die Fichte in der Hand gehalten haben konnte. Ich muss zugeben, ich war ganz ehrfürchtig und konnte vor lauter Ehrfurcht nicht lesen, nur staunen. Groß Bohei haben sie nicht um das Buch gemacht, man kriegte es ohne Vorsichtsmaßnahmen ausgeliehen. Wirklich gelesen habe ich die Wissenschaftslehre später, zurück in Deutschland, in der Meiner-Ausgabe, in der konnte ich unterstreichen, in die konnte ich Anmerkungen schreiben und Merk-Eselsohren knicken, die durfte ich im Falz auseinanderdrücken, kurzum: misshandeln, wie ich das mit meinen Büchern nun einmal mache, weil sie für mich Arbeitsmaterial sind.

Die Bibliothek ist – witziger Zufall – auf den Briefmarken abgebildet, die ich für ein paar Grußkarten gekauft habe. Heute ist sie sorgfältig restauriert, 2014 hatte ich Gelegenheit, einen Blick in den sonst nicht öffentlich zugänglichen Lesesaal zu werfen, alles tiptop. Eine Ecke meiner Seele trauert der dysfunktionalen Vernachlässigung hinterher, aber nur ein bisschen: Ohne Sanierung wäre das Ding inzwischen vermutlich abrissreif – Verfall ist auch keine Lösung.

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