Boris Buden: Der Schacht von Babel (I)
Das Buch erschien 2004, steht seit Jahren im Regal, ich hab es mit nach Zagreb geschleppt, um es endlich ganz zu lesen. Und da es kein Buch ist, das ich durch bloßes Lesen verstehe, fasse ich, unterteilt in vier Beiträge, die m.E. wesentlichen Argumentationsschritte zusammen, nicht via Exzerpt und Kompilation, sondern mit meinen eigenen Worten.
1. Der Name der Muttersprache (Einleitung)
Die Einleitung ist eine Mischung aus Projektaufriss und Schilderung der persönlichen Motivation, es zu schreiben. Buden bricht bewusst und begründet mit dem Usus, als Übersetzer und Wissenschaftler nicht von sich zu reden, berichtet von seinen Erfahrungen als Freud-Übersetzer in der kroatischen Öffentlichkeit, von der Sprachsäuberungs- und Kroatisierungswut der neunziger Jahre, deretwegen er das Übersetzen aufgab, und überlegt, in welcher Sprache er das Buch eigentlich schreibt. Antwort: in dem Deutsch eines austro-ungarisch-kommunistisch-kroatischen Muttersprachlers.
Indem er diesen Begriff auflöst, skizziert Buden sein Vorhaben. Das Kroatische ist stark vom Habsburger-Reich geprägt, zu dem Kroatien 1526-1918 gehörte. Das Serbokroatische wurde als vom Justizministerium in Wien angeregte Sparmaßnahme aus der Taufe gehoben, um den linguistischen Wildwuchs der Balkanprovinzen mit dem „Abkommen über die einheitliche Sprache der Südslawen“ einzudämmen, das von führenden serbischen und kroatischen Intellektuellen im März 1850 unterzeichnet wurde (nebenbei vorlaut angemerkt aus den geradewegs entgegengesetzten Gründen: Zusammenhalten gegen die Fremdherrschaft, so habe ich es gelernt, nie überprüft, ob es stimmt). Durch die jahrhundertelange enge Berührung mit dem Deutschen ist Kroatisch mit Germanismen gespickt und kann die deutsche Syntax problemlos nachahmen. Das austro-ungarische Kroatisch war auch für Wörter aus anderen Sprachen offen. Das alles, die Nähe zum Serbischen wie zum Deutschen, die Offenheit für Einflüsse aus anderen Sprachen, wurde dem Streben nach nationaler, d.h. vor allem auch sprachlicher Eigenständigkeit geopfert. Man wollte den seit tausend Jahren von übermächtigen fremden Einflüssen verschütteten Kern des Kroatischen freilegen. Die Hatz auf unkroatische Worte wurde zum Volkssport, so sehr, dass das kommunistische Laisser-faire rückblickend fast paradiesisch anmutet. (Auch dazu eine Anmerkung: Inzwischen sind dreizehn Jahre verstrichen, das Klima hat sich doch entspannt. Allerdings treffe ich natürlich fast ausschließlich Menschen, die alles andere als vernagelt sind.) Kommunistisch assoziiert Buden daher mit der Freiheit, ungestraft Wörter und Redewendungen aus dem Serbischen oder Bosnischen zu verwenden und Neologismen abseits der offiziellen Hochsprache zu bilden. Austro-ungarisch-kommunistisch steht politisch für koloniale Unterdrückung und sozialistische Diktatur, linguistisch jedoch bizarrerweise für fast uneingeschränkte Möglichkeiten, sich auszudrücken. Aber nicht die Nostalgie treibt ihn als Sprecher des austro-ungarisch-kommunistischen Kroatischen um, sondern Entsetzen über die verschenkte Gelegenheit: Kaum eingeführt brach die Demokratie ihr Versprechen, jeder dürfe nach seiner Fasson glücklich werden.
Das austro-ungarisch-kommunistische Kroatisch ist staatenlos geworden und nur noch kulturell erfahrbar. Aus diesem Impuls heraus interessiert sich Buden für die „gesellschaftliche und politische Bedeutung der Übersetzungsarbeit“ (16). Die Übersetzung wurde im postkolonialen, postmodernen Diskurs als Gegengift zur Abspaltungstendenz in immer mehr und immer kleinere Regionen massiv aufgewertet. Wird eine bescheidene literarische Praxis damit nicht völlig überfrachtet? Zumal in Nationalsprachen übersetzt und der Übersetzung im Prozess der Konstituierung als Nation eine wichtige Rolle zugeschrieben wird. Im Fall des Kroatischen geht das seit dem Krieg mit dem Kampf gegen die Hegemonie des Deutschen und Serbischen einher, eine Emanzipation, die nichts mit dem kommunistischen Emanzipationsprojekt am Hut hat.
(Bemerkung aus den Kulissen: Worauf ich mir nun gar keine Chancen ausrechne ist, dass mir die Lektüre bei meiner konkreten Arbeit an Übersetzungen helfen wird. Es geht mir bei dem Versuch, das metaphorische Reden von der Übersetzung im Zusammenhang mit dem „translational turn“ und seinen Vorläufern in den Kulturwissenschaften zu durchdringen, um eine Standortbestimmung. Was mache ich, wenn ich übersetze? Darauf erhoffe ich mir eine Antwort. In meinem Referat von Budens Text lasse ich eins bewusst weg – die Referenzen auf die Autoren, auf die sich seine Argumentation stützt. In Klammern: stets meine Überlegungen.)
Sprache stiftet Gemeinschaft, erst die babylonische Sprachverwirrung ermöglicht den Menschen, sich in ihrer jeweiligen Sprache und dem zugehörigen geografischen Raum beheimatet zu fühlen. In Europa war die Abkehr vom Latein und die Hinwendung zur Volkssprache ein Meilenstein auf dem Weg zu den heutigen Staaten. Europa ist seither mehrsprachig und hat durch seine Mehrsprachigkeit etwas für seine Identität Wesentliches gewonnen: eine kritische Kultur (das ist m.E. ein Postulat, zumindest an dieser Stelle nicht hergeleitet, obwohl mir auf Anhieb einleuchtet, dass der permanente Kontakt mit Beispielen, wie es anders laufen kann, notwendig einen skeptischen Blick auf die eigene Lebensweise nach sich zieht) und kulturelle Vielstimmigkeit. Demokratische wie kulturelle Verständigung setzen eine Verkehrssprache voraus, die wiederum nur möglich ist, wenn zumindest im Prinzip von einer Sprache in die andere übersetzt werden kann.
Die Verkehrssprache Europas ist nun keine der Nationalsprachen, sondern die Übersetzung, Übersetzen verstanden als übergreifende gesellschaftliche Praxis, bei der je nach Anforderungen eine Sprache oder Person die Mittlerfunktion übernimmt. Die europäische Mehrsprachigkeit ist einzigartig, weil es viele Idiome mit relativ kleinen Sprechergemeinschaften gibt, weil einige dieser Idiome durch ihren Export in andere Weltregionen via Kolonisierung globalisiert wurden und weil sich hier eine Gemeinschaft verschiedensprachiger Menschen herausgebildet hat, die den Geist und die Atmosphäre einer anderen Sprache erfassen und würdigen können. Der zuletzt genannte Aspekt öffnet den Blick auf das Potenzial des Übersetzens als globaler kultureller Widerstand gegen die spätkapitalistische Globalisierung. Dieses Potenzial ist derzeit im Wesentlichen auf zwei Bevölkerungsgruppen beschränkt: Künstler und Intellektuelle einerseits und arbeitssuchende Migranten andererseits. Die Mittelschicht hängt im weitgehend monolingualen Bildungssystem fest.
2. Übersetzung und Gemeinschaftsbildung
Auf dem Weg zur Übersetzungskultur ist als Erstes der romantische Sprachbegriff zu kritisieren: Sprache ist eben nicht in sich geschlossene Totalität, Sprache ist nicht gleichbedeutend mit Nation, Sprache determiniert nicht unsere Weltsicht und schon gar nicht, ob die Kultur einer Gemeinschaft höher steht als die einer anderen. Nur wer einen qualitativen Unterschied zwischen Sprachen annimmt, also glaubt, dass manche Sprachen geistigen Zwecken besser dienen als andere, kann von der prinzipiellen Unübersetzbarkeit eines Werkes reden.
Die romantische Sprachtheorie unterscheidet zwischen Wort und Zeichen, das Zeichen ist übersetzbar, das Wort nicht, weil es eigentümlicher Ausdruck des einfachen Volkes sei, von der rein geistigen Kraft der Sprache aus dem Nichts geschaffen werde, von seiner lautlichen Gestalt und klanglich ähnlichen Worten nicht getrennt werden könne und die Realität nicht nachahme, sondern gestalte. Das kreative Potenzial ist letztlich individuell und würde selbst innerhalb einer Sprache jede Verständigung verhindern, könnte es sich vollkommen äußern. Weil das nicht gelingt, ist das Wort auch Zeichen und das Gesagte übersetzbar – von einem Sprecher zum anderen, von einer Sprache in die andere. Kommunikation ist immer Übersetzung und die Übersetzung im engeren Sinn, also von einer Sprache in die andere, ein Mittel der Sprachbildung, der Vervollkommnung der eigenen Sprache durch die Schulung des Ausdrucks an der Fremdsprache. Verschiedene Sprachen sind Behelfsvehikel des Geistes; könnte er sich vollkommen ausdrücken, gäbe es nur die eine, subjektive Sprache des Geistes. Zur Vollkommenheit würde allerdings auch gehören, dass der subjektive Geist die objektive Welt umfasst, objektiv trennen sich die Menschen jedoch in verschiedene Gruppen mit verschiedenen Sprachen. In den einzelnen Nationalsprachen äußert sich der Geist in einer spezifischen, einmaligen, nicht übertragbaren Weise, die in jeder anderen als das Fremde erscheint. Übersetzungen sollen exakt dieses Fremde der eigenen Sprachgemeinschaft vermitteln. Da diese mit der Nation gleichgesetzt wird, wird Übersetzen zur patriotischen Tugend, weil es mehr als jede andere Tätigkeit die Sprache weiterentwickelt und damit die Nation auf eine höhere Stufe hebt. Denn – immer noch dieser Theorie zufolge – Wortbildung und Sprachklang bestimmen das geistige, moralische und politische Los einer Nation. Das Volk mit den besten Übersetzern werde durch Geist und Rede herrschen, zur führenden Kulturnation aufsteigen und für alle anderen Menschen Vorbild werden. (Sicher kein Zufall, dass das während der Napoleonischen Kriege und unter französischer Besatzung in Deutschland entwickelt wurde, klingt ein bisschen nach Zähneknirschen.)
Der nationale Raum soll von Kulturarbeit bestimmt werden. Der Übersetzung fällt die Aufgabe zu, die Grenze zur jeweils anderen Nation zu ziehen. Dabei dürfen keine Grauzonen bleiben. Die Identität der Nation muss im Kern – das ist die Sprache – klar herausgearbeitet werden. Das kann die Übersetzung nach der Theorie eines anderen Romantikers besonders gut, wenn sie einen erkennbar ausländischen Text produziert, womit sie allerdings auf einem äußerst schmalen Grat balanciert und ständig in Gefahr schwebt, ins Lächerliche abzustürzen. Übersetzung hat so gesehen nicht etwa die Aufgabe, zwischen Kulturen zu vermitteln, soll sie vielmehr voneinander abgrenzen, indem sie die Unterschiede fühlbar macht. Gleichzeit bewirkt sie innerhalb der Sprachgemeinschaft eine Harmonisierung oder Standardasierung, indem sie Sozio- und Dialekte meidet.
Bei beiden Sprach-/Übersetzungstheorien, beide aus der Zeit der Romantik, geht es also eigentlich um den Prozess der Gemeinschaftsbildung, beide schreiben der Kultur und der Übersetzung dabei eine herausragende Rolle zu. Nation rein kulturell oder sprachlich zu definieren ist indes unmöglich, dafür gibt es zuviele zweisprachige und in verschiedenen Kulturen beheimatete Menschen – Paradebeispiel Secondos. In dem Begriff Nation steckt die gemeinsame Geburt oder Herkunft, nationale Einheit beruht also auf dem Konstrukt einer einheitlichen Rasse, Ethnie oder Volkszugehörigkeit, die sich vererbt. Ein historisch gewachsenes, politisch-kulturelles Gebilde, der Staat, wird so auf eine vermeintlich natürliche Basis aufgesetzt. Die damit assoziierte gemeinsame Sprache ist in ihrer heutigen Form erst durch die allgemeine Schulpflicht denkbar und wird von allen staatlichen Einrichtungen eingefordert und gestützt.
Welche erbliche Zugehörigkeit jeweils verlangt wird, wird den jeweiligen politischen Erfordernissen angepasst – im Moment ist es wohl die europäische Abstammung (wobei Separationstendenzen aktuell unübersehbar sind: Frankreich, England, Schottland, Katalonien …). Auf EU-Ebene wird es mit der einheitlichen Sprache natürlich eng. Einen Ausweg aus diesem Dilemma bietet, wie oben erwähnt, Übersetzung als europäische Verkehrssprache.
Faktisch stehen Übersetzer jedoch ebenso wie Migranten oder im Ausland engagierte Geschäftsleute, Ingenieure usw. unter dem Einfluss von mindestens zwei Kulturen und Sprachen. Das blenden Übersetzungstheorien bis heute aus, weil sie sich auf Texte konzentrieren und darüber die Menschen vernachlässigen, die diese Texte produzieren und letztlich eine kulturübergreifende Gemeinschaft von Vermittlern bilden. Allerdings haben interkulturelle Communities keine politische Vertretung, auch nicht in modernen Demokratien. Insofern ist es angemessen, dass sich Übersetzungstheorien im engeren Sinn nicht mit politischen Themen und Weltverbesserung befassen. Aus demselben Grund verabschiedet sie Buden aus seinem Buch.
Als Nächstes bzw. im nächsten Eintrag geht der Originalkomplex unter, und zwar erst das Original und dann der Komplex ;-).