Ictus oculi et momentum: Rahel Mucke und Max Stock

Als ich die Aufgabe übernahm, heute die Eröffnungsrede zu halten, stand der Titel der Ausstellung schon fest, der da lautet Die Ewigkeit des Augenblicks, und mir schoss unwillkürlich durch den Kopf, ach ja, diese Künstler, die hams halt nicht so mit der Logik, Hauptsache, es klingt schön. Ewigkeit und Augenblick schließen sich schließlich aus, ein Augenblick ist per definitionem das glatte Gegenteil von Ewigkeit und umgekehrt. Aber dann fiel mir Emmanuel Lévinas ein, dazu später mehr, und komischerweise mochte ich den Titel trotz meiner logischen Einwände von Anfang an, und das nicht nur, weil er schön klingt. Unterschwellig war mir sofort klar, worauf er abzielt, nämlich dass es Momente gibt, in denen Zeit keine Rolle spielt, Momente, in denen wir ganz in der Gegenwart sind, Momente, in denen uns der Zahn der Zeit nichts anhaben kann. Letztlich gewinnt die Zeit, das wissen wir, deswegen hat die Menschheit ja Begriffe wie Ewigkeit erfunden in dem gar nicht so hilflosen Versuch, Widerstand zu leisten gegen das Faktum der Endlichkeit. Und die Kunst ist so ziemlich die effektivste Guerillataktik in diesem Kampf. Nur ein Beispiel: Um uns die Frühgeschichte der Menschheit zu erschließen, sind wir auf mehr oder minder spekulative Rekonstruktionen angewiesen, steinzeitliche Felsbilder aber sprechen uns unmittelbar an – und ein Augenblick überbrückt Zehntausende von Jahren.

In dem Wort Augenblick steckt die ursprüngliche Bedeutung noch ganz unmittelbar drin, das Blicken mit den Augen, lateinisch ictus oculi, aber seit dem 14. Jahrhundert hat sich im Sprachgebrauch die übertragene Bedeutung – Zeitpunkt, ganz kurze Zeit, lateinisch momentum – durchgesetzt, so sehr, dass wir den Blick nicht mehr mitdenken, wenn wir das Wort Augenblick benutzen. Die beiden Künstler, die ich Ihnen heute vorstellen darf, Rahel Mucke und Max Stock, haben nun jeweils ganz eigene Wege gefunden, wie sie dem Augenblick Ewigkeit verleihen.

Max Stocks Protagonisten sind ganz klar Vertreter des ictus oculi, Rahel Mucke sucht eher das momentum, über dem wie die Zeit vergessen. Was Max Stock lieber auf den Punkt bringt, hält Rahel Mucke in der Schwebe. Während Max Stock Einfachheit, Klarheit, plakative Kontraste sucht, entführt Rahel Mucke den Betrachter ins Offene seiner eigenen Deutung.

Beiden gemeinsam ist, dass sie die Druckgrafik brauchen. Ohne könnten sie ihr künstlerisches Projekt nicht so vorantreiben, wie sie es tun. Keiner der beiden beschränkt sich auf Druckgrafik, aber ohne wären beide nicht die Künstler, die sie heute sind. Druckgrafik ist ihnen viel mehr als die Möglichkeit, Kunst für schmale Brieftaschen herzustellen, sie ist ihnen unerlässliches Experimentierfeld, um Bildideen durchzubuchstabieren, um deren Gedankenraum auszuloten. Das sehen Sie besonders gut in den Mappen mit Arbeiten, die ergänzend zu den Exponaten an der Wand für die Dauer der Ausstellung hier bereitliegen.

Sowohl Rahel Mucke als auch Max Stock brauchen Druckgrafik nicht zuletzt der spezifischen Eigenschaften wegen, die zum Beispiel eine Kaltnadelradierung oder eine Strichätzung auszeichnen. Radierungen sind strenggenommen dreidimensional. Die Druckplatte verdichtet das zum Drucken gewässerte, aufgequollene Büttenpapier zu einer glatten Fläche. Der Kontrast zwischen der matten, leicht rauen Oberfläche des unbedruckten Papiers und den leicht vertieften, schimmernden gedruckten Flächen ist ebenso konstitutiv für den Kupferdruck wie die Kante, die beide Bereiche voneinander trennt. Mit Strichätzungen kann man zudem Prägeeffekte erzielen. Dafür wird eine Kupfer- oder Zinkplatte mit Lack geschützt, in den man Linien ritzt, die dann im Säurebad tief in die Platte geätzt werden. Liegt sie anschließend lange genug im Säurebad, werden aus Ritzungen Rillen, die keine Farbe mehr halten. Beim Drucken bleibt das Papier unter den Rillen erhaben, während alles ringsum plattgewalzt wird. Das Ergebnis ist ein so genannter Blinddruck, dessen Motiv allein durch den Schattenwurf des Lichts und den Kontrast zwischen matten und glänzenden Stellen sichtbar wird.

Rahel Mucke nutzt für ihre Blinddrucke zusätzlich Materialien wie Draht, Pappkarton oder Unterlegscheiben, die im Papier Vertiefungen hinterlassen. Die so erzeugte Reliefstruktur nimmt sie als Basis für Aquarelle und verbindet auf diesem Weg ihre beiden, bisher wenigstens, wichtigsten Ausdrucksmedien – Druckgrafik und Aquarell.

Ihre Arbeiten zart zu nennen, hieße einen abgegriffenen Topos zu bedienen, obwohl es stimmt, die Arbeiten – und das bezieht sich auf alle hier ausgestellten oder in Mappen einsehbaren Bilder – sind zart und poetisch, aber sie haben enorm viel Kraft. In der Farbigkeit meist pastellig-verhalten, gehören sie eher zur leisen Fraktion, aber sie sind sehr beredt. Die Ausstellung zeigt unter anderem ein Blatt voll rätselhafter Zeichen, ein regelrechter Musterteppich. Es lebt von einer archaischen Körnigkeit, die sich Zuckerkristallen verdankt. Die werden bei der so genannten Aussprengtechnik verwandt, für die es einen wahrlich langen Atem braucht: Man wartet Wochen, bis die aufgetragene Zuckerlösung richtig durchgetrocknet ist und der nächste Arbeitsschritt folgen kann. Anders bei der Kaltnadel, hier hat man das Ergebnis sofort. Wenn Sie sich Rahel Muckes Motive ansehen, begegnet Ihnen ein ganzer Kosmos: winterkahle Bäume am Wegrand, Tiere auf dem Sprung, fragile Häuser und trutzige Kirchen, deren abweisende Fassaden vom Daheimsein erzählen, Schiffbrüche, ganz selten menschenähnliche Wesen. Angedeutete Topografien, Landkarten, Wegenetze, Trampfelpfade, Scheidewege, Kreuzungen erinnern an identifizierbare Orte und schildern zugleich komplexe, gefährdete Beziehungen.

Rahel Mucke benutzt gern Kunststoffplatten für die Kaltnadel, nicht zuletzt deshalb, weil das durchsichtige Material ein wesentlich genaueres Auftragen und Auswischen der Druckfarbe erlaubt. Die mit Gaze und Handballen erzielten Tonwerte sind ihr sehr wichtig, ich weiß, weil wir ja öfter hier im Druckgraphik-Atelier gleichzeitig arbeiten, jede an ihren Dingen, wie sorgfältig, konzentriert und gelassen Rahel die eingefärbten Platten für den Druck vorbereitet, wie lange es dauert, bis sie mit dem Ergebnis zufrieden ist, wie penibel sie schon beim Einfärben vorgeht, und eigentlich wartet jedes Mal ein neuer Farbton darauf, mit Lederstreifen auf die Platte gebracht zu werden.

Die wache Neugier und die beharrliche Suche nach dem Moment, der die Zeit vergessen lässt, beides zusammen macht Rahel Muckes Bilder stark, und stark finde ich auch, dass sie, was gemeinhin als Fehler gilt, produktiv umdeutet, Risse im Asphaltlack etwa, die entstehen, wenn man ihn aus Ungeduld oder eben künstlerisch berechnend heiß trockenfönt, damit die Platte schneller ins Säurebad kann. Da kommen dann schon mal Serien und weise Zaubersprüche bei raus …

Während Rahel Muckes Radierungen also farblich vielfältig sind und hinsichtlich des Sujets in der Schwebe bleiben, im weiten Feld zwischen Schnittmusterbogen und Märchenlandschaft, Erzählung und Abstraktion angesiedelt sind, sprechen Max Stocks Arbeiten eine klare Sprache. Die Protagonisten vieler seiner Blätter stehen, ich sagte es schon, für den ictus oculi, gucken uns an, fixieren uns mit ihrem Blick, und wie das für uns Menschen so ist mit anderen menschlichen Gesichtern – wir gucken zurück. Emmanuel Lévinas hat den Blick des Anderen zum Ausgangspunkt seiner Philosophie gemacht, genauer eine Erfahrung, die wir alle kennen: Ein offener Blickkontakt nimmt uns ganz in Anspruch. Deswegen ertragen wir ihn ja auch nur ganz kurz. Solange man sich in die Augen schaut, ist alles andere bedeutungslos, und das gilt für jeden offenen Blickkontakt. Der Blick ist eine Schranke. Wenn wir ihn ernst nehmen, wissen wir, dass wir dem anderen kein Haar krümmen dürfen. Durch den Blick erfahren wir den Anderen als das absolut Andere, und als solcher, als absolut Anderer öffnet er uns, sagt Lévinas, und ich finde, er hat recht, für die Unendlichkeit, und das weist unsere Neigung, uns egoistisch über alle anderen zu stellen, in die Schranken. Das ist der Grund, warum Lévinas, der jüdische Litauer und Wahlfranzose, daraus eine ganz und gar säkulare Ethik entwickelte: Der Blick des Anderen setzt unserem Ego sinnfälliger als irgendetwas sonst Grenzen.

Der Blick des oder der Anderen ist, fast möchte ich sagen: offensichtlich ein zentrales Sujet in Max Stocks Œuvre. Er erschafft ein Universum aus Augen, Augen, wohin das Auge blickt, Augen, unverwandt auf den Betrachter gerichtet, ein Blick, der hypnotisiert. Es gibt eine Grafik in dieser Ausstellung, die mich vor allen anderen auf Emmanuel Lévinas gebracht hat. Sie heißt Max und entstand in diesem Jahr, ist also fast noch druckfrisch, und auf diesem Blatt bleibt unklar, ob die Hand am Kopf oder auf der Schulter des Kindes liegt. Ein merkwürdig schmerzliches Bild. Mir persönlich drängt sich der Eindruck auf, dass sich der Daumen der Hand um den Augapfel des Kindes legt, dessen Integrität verletzt, und der Blick ist ein Hilfeschrei. Für mich, wie gesagt, man kann das Bild sicher auch anders lesen. Aber wenn wir es so lesen, wird uns als denen, die angeschaut werden, überdeutlich vor Augen geführt, dass die Hand die entscheidende Grenze ignoriert und der zur Hand gehörende Kopf weit entfernt von einem Blickkontakt ist, während sich der Betrachter aufgefordert fühlt, zu helfen.

Gleichsam den Gegenpol finde ich in dem Blatt Dein aus dem Jahr 2013. Die Radierung ist in ihrer Formensprache ganz auf die Linie beschränkt und von großer Innigkeit. Zwei Köpfe und eine Hand sind zu sehen, Auge in Auge und einander zugeneigt. Wäre da nicht das Gegeneinander der Nasen, könnte es auch ein einzigen Gesicht sein und die beiden Augen ein Augenpaar. So aber gibt das Bild dem Wort Augenpaar einen neuen Sinn.

An Max Stocks Grafiken fällt die auf die Spitze getriebene Reduktion auf. Der Plattenton, das allgemeine Hintergrundrauschen der Tiefdruckwelt, kommt ihm nicht aufs Papier, er will den Kontrast, er will grafische Schärfe, die pointierte Aussage, vielleicht ein Reflex seiner Anfangsjahre als Plakatgestalter, wahrscheinlicher Ausdruck von etwas, das in ihm steckt und ihn sowohl zum Plakat als auch zur Suche nach der äußersten Grenze des Weglassens treibt. Zwischendurch hatte der Plakatgestalter übrigens Pause, früher hat Max Stock durchaus Gesichter plastisch dargestellt, weiche Lippen, weich fallende Stoffe mit Pastellkreiden oder Pinsel auf Papier oder Leinwand geworfen. Inzwischen ist er an einem ganz anderen Punkt. Er hat so viel Erfahrung, dass er Bilder und Zeichnungen heraushaut, und jeder Strich sitzt. Wenn überhaupt Farbe, dann ist sie flächig aufgetragen, die Linien haben kaum Varianz in der Strichstärke, viele der Kompositionen wirken noch aus großer Entfernung, haben also eine gewaltige Fernwirkung, die Konzentration auf das Wesentliche mehrt die Kraft dieser Grafiken, und so landen wir zum Schluss wieder bei einem abgegriffenen Topos, der trotzdem zutrifft: Ja, Max Stock erschafft starke Bilder. Aber da ist auch viel Zartheit, so manche Verspieltheit, Schnörkeligkeit gar, und ab und an leuchtet uns ein verhaltener Pastellton entgegen.

Als ich die Aufgabe übernahm, heute die Eröffnungsrede zu halten, habe ich mich total auf die Arbeiten von Rahel Mucke und Max Stock gefreut, auf die Aussicht, sie besonders gründlich zu betrachten, mich in sie zu vertiefen und hineinzudenken und mir die Herangehensweise dieser beiden Künstler näher anzuschauen. Ich hoffe, ich konnte ein wenig von dieser Freude an Sie weitergeben und dass Sie hier in der Ausstellung schöne Dinge für sich entdecken.

Vielen Dank fürs Zuhören.

Rede zur Vernissage der Ausstellung „Die Ewigkeit des Augenblicks. Rahel Mucke und Max Stock“ im Druckgraphik-Atelier von Eberhart Hartwig, Berlin, am 5. November 2016

1 Kommentar zu Ictus oculi et momentum: Rahel Mucke und Max Stock

  1. Schöner Text! Ich hätte große Lust, die Ausstellung zu sehen. Aber erstens ist sie schon lange vorbei und zweitens der Weg von Wiesbaden zu weit …

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