Rasulo

Derzeit bin ich (oder sollte sein, weil feiertäglich träge …) mit der Endfassung meiner Übersetzung eines schmalen Bändchens von Bora Ćosić befasst, also auf der Zielgeraden, auf der die endgültigen Entscheidungen zu treffen sind (oder fast endgültigen, es folgt ja noch der Lektoratsdurchgang), und wie immer drücke ich mich darum gern herum (womit ich wohl nicht allein bin auf dieser Welt), und sei es, indem ich ein wenig in anderen Büchern blättere. Und siehe, unverhofft bin ich wieder beim Thema, entdecke ein Gedicht in Bora Ćosićs Band Razvoj kraljičinog gardista (Zagreb: h,d,p, 2015 in der biblioteka poezije) mit demselben Titel wie das Buch, das ich aktuell auf dem Schreibtisch habe: Rasulo, und dieser Titel ist, was sonst, ein Problem. Das Wort kommt von rasuti, verstreuen, vergeuden, verschleudern oder auch, bezogen auf Menschenansammlungen, sich zerstreuen. Rasulo heißt laut Wörterbuch Zerfall, allgemeine Verwirrtheit, ein Zustand der Auflösung. Natürlich spielt Bora mit all diesen Bedeutungen in seinem Buch, den Roman zu nennen irgendwie zutrifft und irgendwie auch wieder nicht. Sei dem wie es sei, hier dieses Gedicht mit freundlicher Genehmigung des Autors im Original, in einer dem Original sehr nahen Fassung (also 1:1-Übertragung) und in der, die ich eine Übersetzung nennen würde.

Bora Ćosić: Rasulo (Original)
Umrla je pesnikova udovica
jedno vreme deleći stan
s njegovim odsustvom
sve više povlačeći se
pred tom prazninom
kao u neku Sibiriju anonimnosti
umrla je ova skromna gospođa
nekada regentkinja
dvori su demontirani
soba umrlog pesnika
neka vrsta prestonice
pretvorena je u provinciju
onamo nasrće poznata rulja
iz Bunuelovog filma
razvlače perine sitne predmete
čak i knjige
nadajuće se skrivenom novcu
između stranica
potom useljava se
četveročlana porodica
izbeglička
veselo se raspoređuju
deca šaraju po zidovima
otac otvara pivo
mati pere veš

1:1-Übertragung: Verfall
Gestorben ist des Dichters Witwe
einige Zeit teilend die Wohnung
mit seiner Abwesenheit
sich immer mehr zurückziehend
vor dieser Leere
wie in ein Sibirien der Anonymität
Gestorben ist diese bescheidene Frau
einst Regentin
die Paläste sind demontiert
das Zimmer des verstorbenen Dichters
eine Art Hauptstadt
ist verwandelt in Provinz
dort fällt die aus Buñuels Film
bekannte Meute ein
zerrt Bettzeug, kleine Gegenstände auseinander
sogar Bücher
hoffend auf verstecktes Geld
danach zieht
eine vierköpfige Familie ein
Flüchtlinge
fröhlich richten sie sich ein
die Kinder bemalen die Wände
Vater öffnet Bier
Mutter wäscht Wäsche

Übersetzung: Aufgelöst
Jetzt ist sie tot, die Witwe des Dichters
Die Wohnung hatte sie noch eine Weile
mit seiner Abwesenheit geteilt
sich der Leere
mehr und mehr entzogen, war
in die Anonymität Sibiriens geflohen
Tot ist die zurückhaltende Frau
seine Statthalterin
der Thronsaal ausgeräumt
das Zimmer des toten Dichters
die Metropole
zur Provinz degradiert
von einer Meute
à la Buñuel
die Bettzeug, Krimskrams
sogar Bücher fleddert
zwischen den Seiten
auf gehortete Scheine hofft
Dann lässt sich eine vierköpfige Familie
Flüchtlinge
frohgemut nieder
Kinder bekritzeln Wände
Vati nimmt sich ein Bier
Mama macht Wäsche

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.