Unter dem Beton: ein reiner Quell
Das Lauterborn, der Stadtteil, in dem ich von der dritten Klasse bis zum zweiten Semester wohnte, ein damals nagelneuer Stadtteil, wo aufgelassene Kleingartenanlagen auf Bebauung warteten und ich mir beim Stolpern über gebrauchte Betonverschalungen mal einen rostigen Nagel durch das Fleisch zwischen rechtem Daumen und Handteller rammte, dieses Lauterborn war und ist weder vornehm noch elegant, ganz Offenbach ist das nicht, die Innenstadt zum 1-Euro-Läden-Nirwana verkommen, mit einer vierspurigen Schneise aufgeschnitten dank der Autoeuphorie der fünfziger und sechziger Jahre, das frühere Theater und heutige Kapitol in der einstigen Synagoge, das Mainufer hinterm Nordend durch Industrie und den Hafen von der Stadt abgeschnitten. Ich wollte damals weg und wollte nie zurück, will es immer noch nicht, könnte es mir aber vorstellen, wären meine Lebensumstände andere. Die Stadt hat sehr lebenswerte Seiten, schon weil sie Frankfurt von den Gärtnern in Oberrad bis zu den Reichen in Bad Homburg als schmuddeliges Geschwisterchen ein vielfarbiges, unverkrampftes Miteinander vorlebt. Gesprochen wird hier in fast allen Zungen dieser Erde, am häufigsten Türkisch, Serbisch, Griechisch, allüberall Kopftücher und weit exotischere Kleidungsstücke, und dazwischen Einheimische mit diesem Dialekt, der mir eine Zeit lang die Tränen in die Augen trieb, so stark stand er für verlorene Zugehörigkeit.
Rückblende: Vor zwei Jahren, Besuch bei Mutter, es war eine schwere Zeit. Wir gingen zusammen einkaufen, sie rechts auf den Stock gestützt, links an meine Hand geklammert. Kurz vor dem Ziel, am Zebrastreifen, kam aus beiden Richtungen je ein Auto mit einer offensichtlich türkischen Familie darin, wir waren noch nicht richtig an der Fahrbahn, und sie hielten in einem Abstand, viel größer als nötig, um Sicherheit zu gewähren: ein Abstand, der Respekt vor dem hohen Alter ausdrückte, Ehrerbietung. Ich bin versucht zu denken: Ein Deutscher hätte schnell noch mal aufs Gaspedal gedrückt, bevor er Stunden warten muss, bis die lahme Oma auf der anderen Seite ist. Aber dann denke ich es lieber doch nicht.