Schlaflos in Berlin
Die Nacht, in der die Zeitumstellung kam, habe ich kein Auge zugetan: Und jede Minute genossen. Vierundzwanzig (abzüglich Zeitumstellung und Frühstückspause zweiundzwanzig) Stunden lang wechselten sich im Berliner Literaturhaus Schriftstellerinnen und Schriftsteller ab und huldigtem einem ihrer ganz großen Vorgänger, Laurence Sterne. Ich kam spät, fuhr erst nach zwei, drei Bierchen in meiner >Stammkneipe gen Fasanenstraße, aber morgens um eins bei ’ner Lesung aufschlagen können, das wollte ich mir nun wirklich nicht entgehen lassen. Wollte ein, zwei Stündchen bleiben, maximal. Und hörte mich fest. Die Vögel fingen an zu zwitschern, es dämmerte, es wurde hell: Kurz vor acht riss ich mich endlich los.
Sterne ist einer der Autoren, deren Texte vorgelesen eine neue Dimension bekommen. Das gilt unbedingt für Leben und Ansichten von Tristram Shandy, Gentleman mit seiner hochartifiziellen, hochkomischen, vor Witz und Neuerungen nur so sprühenden Sprache. Die typografischen Sperenzchen machen beim Vorlesen wohl etwas Mühe bzw. fallen unter den Tisch, aber dafür kann man sich ganz den absurden Einfällen, Dialogen, Monologen, Disputationen et-Zetera etcetera in all ihrer hochgelahrten, lateingeschwängerten, mit Zitaten nur so um sich werfenden Parodie hingeben. Dabei fragte aber offenbar nicht nur ich mich ständig: Was, das soll im 18. Jahrhundert geschrieben sein? Der Roman, der zwischen 1759 und 1767 erstveröffentlicht wurde, ist unerhört modern. Und – vor Victoria war man ja noch nicht soooo prüde – ganz schön süffisant, unglaublich schlüpfrig und gespickt mit Zweideutigkeiten. Gespickt auch mit Seitenhieben, die man heutzutage gesellschaftskritisch nennen würde. Der Tristram ist eine bitterböse Satire, mit der sich nicht zuletzt einer Luft machte, dem seine spitze Zunge auf die Füße gefallen war, kirchenkarrieretechnisch betrachtet. Insofern ist die wilde Geschichte, die mir heute nacht ans Ohr drang, vom Herrn mit dem Riesenriechorgan in Straßburg gewiss unwiderleglich selbstbiografisch, wenn auch, gelle, von der Zunge auf die Nase verschoben, und autoparodistisch, denn den richtigen Riecher hat der Herr Autor in Bezug auf seine Aufstiegschancen ja wohl nicht gehabt …
Die unerhörte Modernität kann übrigens nicht, zumindest nicht nur an der Übersetzung liegen, obwohl die neueste und nicht die eines Zeitgenossen gelesen wurde. Die neueste ist von >Michael Walter, der 1983 bis 1991 daran arbeitete (genauso lang wie Sterne selbst) und dafür den Johann-Heinrich-Voß-Preis bekam. Er erfand, schien mir, Archaismen, griff auf vergessene Wörter wie Zähre zurück und verankerte jeden Satz in der Zeit der Zeitgenossen. Trotzdem klingt es modern. Es ist nicht die Sprache, sondern die Struktur, die Selbstreferentialität, das Stocken, Stolpern, Rückwärtsgehen, die Experimentierfreude, nicht zuletzt auch das Selbstbewusstsein, mit dem Sterne sein Ding durchzog.
Eigentlich würden mich nun die Übersetzungen der Zeitgenossen brennend interessieren, vor allem die von Johann Joachim Christoph Bode. Allein, heute bin ich zu müde.