Absinth, Absinth, ein irdisch Kind
Gestern gab es Grund zum Feiern: Die Kneipe, die seit ziemlich genau zwei Jahren mein zweites Wohnzimmer ist, besteht seit zwanzig Jahren, und also wurde gefeiert. Das Absinth in der Dunckerstraße trotzt als eins der letzten Nachwende-Lokale der Gentrifizierung von Prenzlauer Berg. An den Wänden hängen Devotionalien, Wirten abgekauft, die ihre Läden zumachen mussten; die Erinnerung an sie wird hochgehalten. Das Absinth ist zur Arche Noah für deren Stammgäste geworden. Ich kenne es inzwischen brechend voll und gähnend leer, ohrenbetäubend laut und angenehm ruhig, ganz selten mal liegt Stress in der Luft, die Preise sind zivil, obwohl der Wirt gelegentlich verkündet, dass er sie demnächst erhöht, im Sommer sitz ich draußen auf einer Bierbank, im Winter irgendwo am langen Ecktresen, und wenn der 1. FC Union spielt, bestimmt der Spielstand die Stimmung. Gestern war es so brechend voll, wie ich es noch nicht erlebt habe, viele weggezogene ehemalige Stammgäste sind eigens angereist, es war ohrenbetäubend laut, es wurde getanzt und getrunken und auf die nächsten zwanzig! Es ging bis am nächsten Morgen um zehn. Hab ich mir sagen lassen.
Diese Kneipe ist mir wichtig. Ich habe hier viel gelernt. Unendlich interessante Menschen kennengelernt. Die Mischung fasziniert mich, sie reicht von der Kindergärtnerin bis zur Kneipenwirtin, die nach Feierabend noch einen Absacker braucht, vom friedensbewegten Juristen bis zum lesewütigen Verkäufer, vom Musiker bis zum Taxifahrer usw. Junge Frauen und Männer sind an der Bar oder am Kicker, die halten sich die Waage mit den Alten (also meiner Generation, viel älter ist selten), die meisten sind zwischen dreißig und fünfzig. Ob aus Ost oder West, spielt eine Rolle. Zu unterschiedlich sind die Erfahrungen der vor 1970 Geborenen. Auch wenn keiner die DDR wiederhaben will, bedeutet die Wende für die Leute im Osten eine tiefgreifende Zäsur, die ihre Biografie in zwei Teile zerschneidet. Ich versuche mich hineinzudenken, wirklich hineinversetzen, das schaffe ich nicht. Ich habe andere Songs gehört, andere Politiker in der Glotze gesehen, mich über andere Dinge aufgeregt, andere Gerüche in der Nase gehabt, und diese Abkürzungen werd ich nie lernen, HO, gut, von Ausnahmen abgesehen. Ich gehör eben zu denen aus dem Westen: Für die haben sich neue Möglichkeiten eröffnet, ansonsten blieb alles mehr oder weniger beim Alten. Oder genauer gesagt, die durch die Wende angestoßenen Veränderungen sind nicht so eindeutig zuzuordnen, sie werden überlagert von anderen Entwicklungen, ob nun Hartz 4 oder Flüchtlingsdebatte oder oder oder.
Aber natürlich ist das Absinth bei allem lernen für mich vorrangig ein Ort, um abzuschalten. Nach einem Tag am Rechner noch mal durch die frische Luft und ein paar Takte reden, den rauchenden Kopf im Zigarettenqualm auf ein erträgliches Aktivitätsniveau herunterdimmen, Tapetenwechsel, aus der Stille am Schreibtisch eintauchen in Jazz- oder Rockmusikklänge (je nachdem, wer am Zapfhahn steht), spüren, dass die Welt jenseits der Bücher existiert.