Mittelalterliches

Zum Jahresausklang noch ein Gedicht aus Bora Ćosićs im November 2015 beim kroatischen Schriftstellerverband h,d,p, veröffentlichten Lyrikband Razvoj kraljičinog gardiste:

Sredovečne
Te sredovečne žene
što prolaze ulicom Motz
kao da dolaze iz središta zemlje
gde susreće se dan i noć
magma i led
sredovečne žene
sa kotaricama punim znanja
kupljenog na tezgama Nolendorfa
sredovečne žene
koje prolaze prema Maria Luise Platzu
dostigle su svoj zlatni presek
tu srednju tačku
ovog trotoara
ovog vidikovca
na rođenje i smrt
oh kako mirišu
te sredovečne žene
tu na polovini trkačke staze
breskve u julu
krupna zrna raspuklog nara
koje pokupile su svu srž
svoga leta
makar jesen bila bezdušna i gorka

Frauenalter
Frauen im besten Alter
laufen die Motzstraße entlang
gleichsam dem Erdmittelpunkt entsprungen
der Begegnung von Tag und Nacht
Magma und Eis
Frauen im besten Alter
mit Weidenkörben voll Wissen
erstanden am Nollendorfplatz
Frauen im besten Alter
laufen Richtung Viktoria Luise
angelangt im goldenen Schnitt
in der Mitte
des Bürgersteigs
mit freiem Blick
auf Geburt und Tod
Frauen im besten Alter
o wie sie duften
auf halber Strecke
Pfirsiche im Juli
pralle Körner aufgeplatzer Granatäpfel
das Mark gesättigt mit
Hitze des Lebens
wiewohl der Herbst herzlos und bitter

Die Übersetzerin bewegt sich auf dünnem Eis, das Magma zu nah: Sredina ist die Mitte, vek das Zeitalter, sredovečne heißt eindeutig mittelalt oder – was ich vorher nie gehört, aber im Duden gefunden habe – mittelaltrig. Wir haben das Wort also im Deutschen, und in den besten Jahren sind angeblich nur Männer, gemäß umgangssprachlichem Gewohnheitsrecht. Dennoch: Mittelalte Frauen klingt doof; wie sagt man nur, wenn eine Frau im Zenit ihres Lebens (gibt es so was?, wie kriegt man den mit?) steht? Dass sie fortan welkt? Schon verblüht ist? Nicht mehr ganz jung? Weder alt noch jung, ergo alterslos?

Und das Kleinklein: Es gibt in Berlin keinen Maria-Luise-Platz, wohl aber, und er unterbricht die Motzstraße, einen Viktoria-Luise-Platz, der Nollendorfplatz schreibt sich mit zwei L, Ćosić nutzt hier entweder das serbische Vorrecht, alles entsprechend serbischen Aussprachegewohnheiten zu schreiben, oder der Setzer hat gepennt, was wahrscheinlicher ist, weil sich der Autor dieses Vorrecht bei den beiden Plätzen und der Motz gemäß kroatischen Gepflogenheiten nicht herausnimmt (sonst stünden moc und plac und Marija da). Auf die Idee, ihn deswegen zu fragen, mich rückzuversichern, käme ich nicht: Es ist zu offensichtlich. Ich verlasse mich darauf, dass ich schon merken werde, wenn ein Wortspiel oder andere Bedeutsamkeiten eine Rolle spielen. Manche/r mag das als Sakrileg, als Kratzen am Gral des Textes empfinden. Das sehe ich anders, es ist ein gewisser Pragmatismus, ja, aber vor allem die Überzeugung, dass sich jeder literarische Text aus sich heraus erschließen muss, womöglich eine Reminiszenz an meine intensive Beschäftigung mit den Romantik und Hermeneutik im Studium.

Weiter im Kleinklein: na tezgama, wörtlich übersetzt „an den Theken“, habe ich unterschlagen. Ladentheken hätte ich schreiben müssen wegen der Verwechslungsgefahr mit dem Tresen, und die klassische Theke hat kaum noch ein Laden, der Ausdruck steht einfach für Geschäft, und wo, wenn nicht beim Händler, sollte man etwas kaufen? Was im Serbischen kurz und klangvoll ist, wäre bei Rettung aller Wörter zu einem umständlichen, arhythmischen Satz ausgeufert – Weglassen von Selbstverständlichem ist oft die bessere Alternative.

Da ist der Sommer, leto bzw. im Genitiv leta, eine härtere Nuss, der hat nämlich dieselbe Doppelbedeutung wie unser Lenz – mein Lösungsversuch, mit einer Hölderlin-Anspielung den Sommer und die Lebensmitte unterzubringen, erhebt keinen Anspruch auf Endgültigkeit. Liegt mir ohnehin fern.

Veröffentlicht mit freundlicher Zustimmung des Autors, puno ti hvala, dragi Borivoje!

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