Niemannsland
Galerie Parterre, Danziger/Ecke Greifswalder, 7. Februar 2017, draußen ein Winter, der den Namen endlich mal wieder verdient, drinnen Hochbetrieb, die Reden laufen noch (ja, wo laufen sie denn?), vorwitzig stehle ich mich durch den Hintereingang am Getränkeverkauf vorbei, gar nicht so einfach, mit meinem voluminösen Mantel keine Weingläser umzuschmeißen, und habe Zeit, mir ein paar Bilder in Ruhe anzusehen, bevor das von den Rednerinnen entlassene Vernissagenpublikum den Blick einschränkt. Zeit, vor dem Bild allein zu sein. Es gibt volle Bilder und leere Bilder. Leere Bilder sind Bilder, auf denen kaum was drauf ist. Volle Bilder sind Bilder, in denen kaum Raum ist. Kein Fleckchen frei. Kein Ort zum Verweilen. Das Auge irrt von Fleck zu Fläche zu Übergang zu Punkt zu Punkt Punkt Strich. Glitscht über farbige Ölteppiche. Sprache ist gemein, verführt zu Wortspielen, die dann böser herauskommen, als sie gemeint waren. Oder ist Sprache nur der vino, in dem veritas? Auf jeden Fall vermimtes Terrain.
Achim Niemanns Bilder sind leere Bilder, eins gar so leer, dass es auf manche Betrachter wie gerade erst angefangen wirkt. Irrtümlich in die Ausstellung geschleppt, verwechselt worden, hätte eigentlich im Atelier bleiben sollen? So unfertig, roh. Die Leinwand ist groß (110 x 225 cm, steht im Katalog), nicht grundiert, lässig aufgezogen, dünne und haardünne Striche weit oben, skizzenhaft mit Zeichenkohle hingeworfen, die Konstruktion noch an Markierungen ablesbar, einzelne, scheinbar verworfene Elemente weiß übertüncht, manche weggewischt, nur in Spuren zu sehen – doch halt, nein: die Zeichnung auf der linken Hälfte spiegelt die rechte. Zacken, Parallelen, Schrägen, Akzente. Also wurde das Bild, ein Querformat, einmal zugeklappt, damit die Kohle abfärbt. Dazu „richtige“ Farbsprengsel, nicht gespiegelt, in der Farbigkeit äußerst verhalten, flächenmäßig extrem begrenzt, ein, zwei münzgroßen Stellen, es sieht eher wie beschmutzt aus. Und Falten. Die linke Hälfte der Leinwand wurde auf eine handbreiten Streifen gefaltet (wie eine Ziehharmonika?) und geplättet, vertikale Schattenfugen blieben zurück. Wenn das Bild überhaupt ein Zentrum hat, dann den rechtwinkligen Haken, galgenähnlich, mit insektenähnlichen Tentakeln, oder ist es ein nicht fertig ausgeführter Rahmen, in den ein Motiv hätte hineingesollt? Der senkrechte Stützpfosten des Galgens reicht weit in die Bildmitte hinein, weiße Ausrufetropfen haben sich davon gelöst, eine blass hingehauchte Schliere wird sie auffangen, die Leinwand darunter unbefleckt bleiben. In meiner Beschreibung sind Nachricht und Meinung nicht sauber getrennt.
Später, als sich der Auftrieb langsam lichtet, die Leute nach Hause gehen oder grüppchenweise in die Kneipen ziehen, stehe ich mit R. vor genau diesem Bild und bin um Worte verlegen. Was ich an dem finde? Hm. Äh. Ja, also es spricht mich an, aber – warum? Also es hat ja schon was Protestantisches, Zisterziensermäßiges, Kreuzgerippe und Armutsgelübde. Du sollst dir kein Bild machen. Anafi/GR 2016 hätte die ikonoklastischen Ausschreitungen in Antwerpen am 20. August 1566 überstanden. Kein Bild. Kein Gemälde: Gestade. Die ganze Weite der Leere darin. Raum, der sich jeden Anspruch auf Inbesitznahme verbittet. Der Sandstrand einer Kykladeninsel, wenn ich mir den Titel so ansehe. Kohle auf Segeltuch. Entfaltungsraum. Vor Ort blieb ich R. die Antwort schuldig, hm.
Äh, hier auch. Ein paar Stunden sitze ich jetzt schon an diesem Eintrag und versuche es auf den Punkt zu bringen, ohne diese manipulativ-metaphorische Sprache von oben. Es gelingt mir nicht. Aber je länger ich die Reproduktion des Bildes betrachte, desto mehr Gründe finde ich, es zu mögen. Wobei die Reproduktion es zugegeben ein wenig gefällig macht. Das Ungeschlachte drängt sich am Original stärker auf, eine Frage des Formats und der Materialität.
R. und ich haben dann doch noch einen gemeinsamen Liebling in der Ausstellung entdeckt, ein Bild, das den 20. August 1566 nicht überstanden hätte … zu sehen bis 9. April 2017.
liebe brigitte, ich bin gerührt (ich mag nicht die rechten worte auf deinen überraschent intensieven text zum anafibild finden), teilweise war ich baff wie nahe du der sache,dem schaffensprozess kamst und dann doch wieder dem eigenleben dieses bildes,seiner kühle auf distanz bliebst. ich bin schon bewegt,dass du dich intensiev mit dieser leeren bildfläche längerer zeit auseinandersetztest. offensichtlich lässt die leere, diese offenheit,ähnlich einem weissen blatt denk-und schreibfreiheit…ich würde mich freuen,diesen text von dir zu bekommen,er wäre ein bereichernder text unter den texten,die es über mein tun gibt ! schön immer das bescheidene R.,wo ich in gedanken gleich bei R.bin. umarme dich und sei herzlich gegrüßt, achim !